In Venedig konnte „Poor Things“ abräumen, für die Oscars geht er als großer Favorit ins Rennen. Yorgos Lanthimos‘ neuster Film ist eine intelligente Erzählung von Emanzipation und Feminismus, gehüllt in Drama und Komödie.
Kaum einen anderen Filmemacher kann man wohl treffender in Kürze beschreiben als Yorgos Lanthimos mit dem Wort „ulkig“. Der griechische Autorenfilmer hat sich durch seine eigenwillige Erzählweise einen Namen gemacht. In „The Lobster“ etwa tauchen wir in eine Welt ein, in der Singles nur begrenzt Zeit für die Partnersuche bekommen, ehe ihnen sonst die Verwandlung in ein Tier ihrer Wahl droht.
Bei all dieser augenscheinlichen Kuriosität haben die Filme Lanthimos‘ dennoch eine erzählerische Tiefe und sind bei weitem kein Sensationskino. Auch „Poor Things“ spielt mit einer vermeintlichen Effekthascherei in Form von sexueller Explizität, hinter der sich schauspielerische Bestleistungen und Karikaturen der Welt verstecken.
Hauptfigur ist die von Emma Stone auf die Leinwand gebannte Bella Baxter. Ganz zu Beginn sehen wir eine Frau, die sich von einer Brücke in den Tod stürzt. Ein experimentierfreudiger Chirurg namens Godwin Baxter (Willem Dafoe) zieht den leblosen Körper aus der Themse. Noch bevor er sie reanimiert, pflanzt er ihr das Gehirn ihres eigenen, ungeborenen Kindes ein.
Aus dieser frankensteinartigen Prozedur entsteht Bella Baxter. Eine erwachsenwirkende Frau auf dem Entwicklungsstand eines Neugeborenen. Sie muss die Welt und allem voran erst mal ihren eigenen Körper verstehen. Für Godwin Baxter, der selbst unter Experimenten leiden musste, ein willkommener Einblick in eine gänzlich neue Schöpfung.
Ganz im Stile des Experiments soll der Untersuchungsraum begrenzt und kontrollierbar sein, allein schon aus der eigenen Angst Godwins von der Gesellschaft ausgestoßen zu werden. Der kindliche Drang zur Erkundung treibt Bella allerdings in die Arme des manipulativen Anwalts Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo). Er verspricht ihr nicht weniger als die Welt und hat dabei keinerlei Probleme mit ihrer geistigen Unreife.
Sie bereisen Metropolen, die jedoch nur in Teilen mit den realen Ebenbildern übereinstimmen. „Poor Things“ besticht mit einem einzigartigen Szenenbild, das zwischen Fantasy und Retro-Futurismus schwankt. Bewohnt von Menschen, die in pompöse Kostüme gehüllt sind, wie sie Lanthimos schon in „The Favourite“ zeigte, wenn auch nun mit deutlich mehr Farbenpracht und Opulenz. Eine Farbenpracht, die im Laufe des Filmes zunimmt, den Prolog erleben wir noch in stilisiertem schwarz-weiß.
Bella Baxter entfernt sich durch die Reise von ihrem passenderweise „God“ genannten Schöpfer und der Zuschauer wird zum führenden Beobachter. Akribisch verfolgen wir ihre Entwicklung. Aus einem isolierten Versuch wird ein einmaliges Ereignis: Eine Frau mit kindlicher Denkweise und ohne Gebundenheit an gesellschaftliche Konventionen muss sich in der Welt zurechtfinden. Emma Stone geht dabei voll in ihrer Rolle auf und zeigt ihre bisher beste schauspielerische Leistung. Es ist ein Herunterfahren des gewohnten Schauspiels. Stone schafft es, die Ungewohntheit, in dieser Welt stattzufinden, einmalig einzufangen.
Gezeigt wird die Erforschung der Welt aus einer sexuellen Perspektive. Sex und das Verhältnis von Mann und Frau kehren sich im Laufe des Filmes um. Während Bella zu Beginn nur versatzstückartig agiert und Wedderburn sie ausnutzt, kämpft sie sich durch ihre (sexuelle) Emanzipation frei. Aus dem manipulativen und vermeintlich weltoffenen Liebhaber wird ein zunehmend gebrochener Mann, der nicht Schritt halten kann.
Mit „Poor Things“ ist Yorgos Lanthimos ein Meisterwerk gelungen. Ein starker Cast, allen voran Emma Stone tragen die dramatisch komische Geschichte. Man muss sich darauf einlassen können, in diese Welt der Ulkigkeit einzutauchen, doch dann lässt sie einen nicht mehr los.