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I’m Thinking of Ending Things – Analyse & Interpretation: Fragmentierung der Identität und Täuschung

Lucy (Jessie Buckley) mit einem Glas vor einer Motivtapete sitzend, Blick in die Kamera

Charlie Kaufmans Film I’m Thinking of Ending Things ist kompliziert und vielschichtig. Die nachfolgende Analyse löst narrative Fallstricke auf und erklärt Zusammenhänge zum Mind-Game-Film, sowie dem Umgang mit Medien und Kultur.

Handlung

Das Drama I’m Thinking of Ending Things erzählt vordergründig die Geschichte einer jungen Frau, deren Name im Verlauf des Films wechselt. Gemeinsam mit ihrem Freund Jake fährt sie zu dessen Elternhaus, einer abgelegenen Farm. Die Beziehung der beiden besteht erst seit sieben Wochen, doch bereits auf der Fahrt wird durch einen inneren Monolog deutlich, dass die Protagonistin über ein Ende der Beziehung nachdenkt – ein Gedanke, der sie hartnäckig verfolgt. Parallel zur Haupthandlung werden immer wieder Szenen eines älteren, einsamen Hausmeisters gezeigt, der an einer Schule arbeitet.

Die narrative Struktur

Charlie Kaufmans I’m Thinking of Ending Things (2020) ist ein paradigmatisches Beispiel für die narrative Komplexität und epistemologischen Herausforderungen, die Thomas Elsaesser als zentrale Merkmale von Mind-Game-Filmen beschreibt. Der Film dekonstruiert nicht nur lineare Erzählmuster, sondern stellt Zeitlichkeit, Identität und Realität infrage. Im Anschluss an Julia Schades Konzept der Unzeit und Elsaessers Überlegungen zu produktiven Pathologien wird die narrative Struktur des Films hier vertieft analysiert, wobei der Fokus auf Zeitlichkeit, Unzuverlässigkeit und intertextuellen Verweisen liegt.

Fragmentierte Chronologie: Zeit als psychologische Projektion

Die scheinbar lineare Roadtrip-Struktur des Films – die Fahrt von Lucy und Jake zur Farm seiner Eltern – dient vor allem als Rahmen für eine tiefere Untersuchung der Zeitlichkeit. Kaufman bricht im Verlauf des Films immer häufiger mit den Konventionen der linearen Erzählung, indem er verschiedene Zeitebenen überlagert und miteinander verschränkt. Diese Technik entspricht Julia Schades Konzept der verdickten Zeit, in welcher die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht klar voneinander getrennt sind, sondern in einem Zustand von permanenter Überlagerung existieren (Schade, 2024).

Die Überlagerung der Zeitebenen erzeugt eine traumähnliche Logik, die Jorge Luis Borges Konzept der forking-path narratives erweitert. In Filmen wie beispielsweise Lola rennt, wird die Handlung an einem zentralen Punkt in mehrere alternative Pfade verzweigt. Erzählungen dieser Art etablieren eine Hierarchie von Pfaden, wobei der Zuschauer schlussendlich einen Weg auswählt, der als Wirklichkeit angesehen wird. Charlie Kaufman unterläuft mit I’m Thinking of Ending Things dieses Konzept. Es gibt keinen „Fork“ als eindeutigen Ausgangspunkt der Verzweigungen und dadurch auch keine Rückkehr zu diesem Punkt.

Häufig geben Filme dieser Art dem Zuschauer eine visuelle Orientierungshilfe, anhand derer (beispielsweise durch Zurückspulen) erkannt wird, dass es sich nur um eine Option handelt. Kaufman hingegen verzichtet darauf und erzeugt somit eine traumähnliche Logik, bei der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verwoben sind. I’m Thinking of Ending Things erinnert durch diese Struktur an den Garten der sich verzweigenden Pfade, in dem alle möglichen Handlungsverläufe gleichzeitig existieren und sich gegenseitig beeinflussen.

Das Zeit-Bild von Deleuze

Der Zeitlichkeit in I’m Thinking of Ending Things kann auch mit Gilles Deleuze‘ Ansatz des Zeit-Bildes begegnet werden. Dabei handelt es sich um eine filmische Darstellungsform, bei welcher die Zeit nicht mehr der Bewegung untergeordnet ist, sondern als eigene Dimension auftritt. Die chronologische Zeit wird aufgebrochen, sodass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein nicht lineares Verhältnis treten. Die Zeitebenen spiegeln sich ineinander, wodurch eine klare Unterscheidung zwischen Realität und Imagination unmöglich wird – Deleuze spricht in dem Zusammenhang von einem Kristallbild.

Die Tatsache, dass eine klare Trennung der Perspektiven nicht möglich ist, wird in diesem Film nahezu idealtypisch umgesetzt. Jake und seine Freundin manifestieren die strukturelle Unsicherheit ins Visuelle. Da Lucy lediglich eine Projektionsfläche für ihn ist, überlagern und durchdringen sich die Vorstellungen seines Ideal-Ichs und der Realität unentwegt.

Deleuze beschreibt das Kristallbild indes als eine Bewegung, die sich „unentwegt um sich selbst dreht“ (Deleuze, 1999, S. 112). Kaufmans Film folgt diesem Konzept durch eine sowohl zyklische als auch fragmentierte Zeitstruktur. Besonders deutlich wird diese Überlagerung durch das rapide Altern und Verjüngen von Jakes Eltern. Der Film offenbart mit diesem Handlungsstrang für den Zuschauer die subjektive und kristalline Zeitlichkeit, in der verschiedene Lebensphasen simultan existieren.

Das „fortwährende Sich-Unterscheiden“ der Bilder führt dazu, dass nie eine stabile Dualität entstehen kann (Deleuze, 1999, S. 112). Im Film wiederzufinden durch die Verwendung von Spiegelungen und Reflexionen. Mehrfach betrachtet sich Lucy selbst oder wird in anderen Objekten gespiegelt und erscheint verändert oder fremdartig. Als wir in einer Szene den Hausmeister beim Betrachten eines Filmes sehen, tauscht sich die Vorstellung von Lucy später sogar mit ihrer Figur aus.

Auffällig sind in der Hinsicht Momente, in denen die junge Frau direkt in die Kamera blickt und damit die vierte Wand zum Zuschauer durchbricht. Jene Szenen lassen sich als ein Bewusstwerden der eigenen Konstruktion oder als den Versuch des Ausbrechens aus der filmischen Realität lesen. Die Szenen passen zu der Vorstellung, dass Jake selbst in seiner Imagination kein Ideal-Ich konstruieren kann, sondern dass ein Eigenleben mit Widerstreben entsteht.

Filmszene: Direkter Blick in die Kamera
Direkter Blick in die Kamera

Außerdem wird dadurch das Publikum mit einbezogen. Die direkte Adressierung
führt zu einer Irritation, welche die fragile Natur dieser filmischen Welt noch weiter unterstreicht und auch das Kristallbild verstärkt: Eine Identität, die sich nie vollends fixieren lässt und sich stets in der Bewegung des Unterscheidens befindet

Unzuverlässige Erzählung: Identitätsfluidität und Perspektivwechsel

Ein zentrales Merkmal von Mind-Game-Filmen ist laut Elsaesser die Dezentrierung der Erzählautorität. In I’m Thinking of Ending Things wird diese Dezentrierung durch die Instabilität der Protagonistin Lucy/Lucia/Ames verstärkt. Ihr Name, Beruf und sogar ihre Kleidung ändern sich im Verlauf des Films mehrfach – ein früher Hinweis darauf, dass sie weniger eine eigenständige Figur als vielmehr eine Projektion von Jakes innerer Welt ist.

Der Film operiert dabei auf zwei Diegeseebenen. Erstere behandelt die scheinbare Realität des Roadtrips und den anschließenden Besuch bei Jakes Eltern. Die zweite Ebene findet am Ende des Films statt, während teils surreal anmutende Szenen einen Hausmeister in der Schule zeigen, dessen Identität und Verhalten zur Auflösung der Narration zentral werden. Diese Ebenen sind nicht klar voneinander getrennt. Vielmehr verschmelzen sie zunehmend miteinander. Elsaesser beschreibt diesen Effekt als „produktive Pathologie“, bei der mentale Instabilität nicht bloß thematisiert wird, sondern zur narrativen Triebkraft wird (Elsaesser, 2009, S. 26).

Die Dialoge in Kaufmans Film sind von Fragmentierung, Widersprüchen und abrupten Wechseln geprägt. Wenn Jake beispielsweise kryptische Bemerkungen von sich gibt oder Lucy zu Rezitationen von Gedichten und Filmkritiken ansetzt, erleben wir Abweichungen von der kommunikativen Norm, die den Zuschauer irritieren und den narrativen Fluss und die kohärente Erzählung stören. Diese Brüche lassen sich mit Julia Schades Konzept der Zäsur einordnen. Damit beschreibt sie die Unmöglichkeit, traumatische Erfahrungen in eine konsistente narrative Struktur zu übersetzen (Schade, 2024).

Die Bemerkungen der Protagonisten dienen darüber hinaus sowohl als Metapher als auch als Selbstoffenbarung. An mehreren Stellen wird etwas als „trügerisch“ beschrieben. Beispielsweise durch die Verkäuferin der Eisdiele, die sagt: „Vorsicht, die Straßen sind trügerisch“. Oberflächlich spielt der Satz auf die gefährlich verschneiten Straßen an, die das Paar noch bewältigen muss. Im Kontext des Mind-Game-Films symbolisiert der Satz den unzuverlässigen Erzählpfad, auf dem sich die Zuschauer befinden. Es ist ein subtiler und doch herausstechender Hinweis darauf, dass die präsentierte Realität nicht vertrauenswürdig ist. Wie bei den Straßen, deren Konturen sich durch die Schneedecke verlieren, verschwimmen auch narrativ die Grenzen zwischen Realität, Erinnerung und Fiktion.

Schade beschreibt die Zäsur als einen radikalen Einschnitt, der sowohl die Zeitlichkeit als auch die Darstellung von Ereignissen unterbricht. Während sich die Figuren zu Beginn nicht von den Dialogbrüchen irritieren lassen, wird stattdessen die Narration destabilisiert. Die Dialoge zwischen Jake und Lucy wechseln schnell zwischen alltäglichem Smalltalk, philosophischer Reflexion und Zitationen aus Literatur und Film.

Die Sprache selbst wird zum Ort des Bruchs. Jakes paraphrastische Einwürfe bleiben nicht nur skurril, sie verweisen auch auf seine Unfähigkeit, sich zum einen klar auszudrücken und zum anderen eine konsistente Identität zu manifestieren. Die kommunikativen Brüche können zudem als ein Zeichen der inneren Krise verstanden werden. Die (gedanklichen) Sprünge ohne Zusammenhang zum vorher Gesagten kann man als einen Ausdruck seiner inneren Zerrissenheit verstehen. Jake ist unfähig, seine Gedanken zu ordnen und seine Erinnerungen klar zu strukturieren.

Die Dialoge des Paares sind von Fehlkommunikation und daraus resultierenden Missverständnissen durchzogen. Das deutet darauf hin, dass Sprache nicht mehr ausreicht, um die inneren Zustände und Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen. Die Unzugänglichkeit der Sprache wird zum wiederkehrenden Motiv in I’m Thinking of Ending Things. Etwa, wenn Jake pedantisch Lucys Aussagen und Inhalte der Gedichte korrigiert oder seine Obsession mit Pauline Kaels Filmkritiken gezeigt wird. Während Sprache normalerweise als Medium und Mittel der Verständigung eingesetzt wird, lässt sie Kaufman zu einem Instrument der Verwirrung werden. Auch Lucys plötzliche Rezitationen, wie die des Gedichts Bonedog schaffen Momente der Zäsur, in welchen ihre Identität und Rolle innerhalb der Geschichte infrage gestellt werden.

Intertextualität: Zitate als narrative Fallstricke

Kaufman integriert zahlreiche literarische und filmische Zitate in sein Werk – von William Wordsworths Ode: Intimations of Immortality from Recollections of Early Childhood bis hin zu Filmkritiken von Pauline Kael. Diese fungieren sowohl als kulturelle Verweise als auch als narrative Fallstricke. Diese Intertextualität dient mehreren Zwecken:

Zuschauerbeteiligung: Die große Anzahl an kulturellen Verweisen fordert ein aktives Mitdenken und Entschlüsseln durch die Zuschauer. Es wird eine Meta-Ebene zum Publikum erzeugt, das sich durch den Konsum des Mediums Film in Teilen dieser Aneignung wiederfindet.

Dekonstruktion des Archivs: Indem er etablierte Texte zitiert und verfremdet, untergräbt Kaufman das Konzept des Archivs als stabilen Wissensspeicher. Dies kann als Parallele zu Schades Kritik am Zeitregime gesehen werden. Zumindest insofern, als beide Ansätze die Fixierung der Vergangenheit problematisieren – allerdings fokussiert Schade explizit koloniale Machtverhältnisse (Schade 2023).

Meta-Narrative Reflexion: Die Aufführung des Musicals Oklahoma! fungiert als Kommentar zur amerikanischen Kulturhistorie und dem American Dream – eine Geschichte von Fortschrittserzählungen, die hier bewusst ins Absurde verzerrt wird. Man verdeutlicht die Kluft zwischen kulturellen Idealen und der Realität.

Kulturkritik und Eskapismus: Die Zitate illustrieren, wie Jake Kulturprodukte als Mittel der Flucht einsetzt. Sie sind nicht nur Teil der Selbstdefinition, sondern auch ein Schutz vor der Realität und der damit verbundenen Einsamkeit.

Die Zeitlichkeit des Suizids als Nachträglichkeit

Die Enthüllung am Ende des Films – dass die gesamte Handlung aus Jakes Perspektive konstruiert ist – transformiert die Erzählstruktur in eine temporale Schleife. Freud bezeichnet diesen Effekt als Nachträglichkeit. Vergangene Ereignisse werden erst durch ihre Wiederholung in der Gegenwart psychologisch wirksam (Kirchhoff, 2009). Das Auto wird dabei zu einem zentralen Raum des Suizids. Einem Ort, an dem Vergangenheit und Zukunft kollabieren.

Die narrative Struktur von I’m Thinking of Ending Things lässt sich als externalisierte Innenwelt lesen, in der Zeitlichkeit nicht objektiv existiert, sondern psychologisch konstruiert wird. Kaufman dekonstruiert konventionelle Erzählmuster zugunsten einer labyrinthischen Form, die Elsaessers These einer Krise der Zuschauer-Film-Beziehung bestätigt (Elsaesser, 2009).

Lucy (Jessie Buckley) mit einem Glas vor einer Motivtapete sitzend, Blick in die Kamera

Zentrale Motive

Im Anschluss an die Analyse der narrativen Struktur untersucht dieser Teil die zentralen Motive. Während die narrative Struktur des Films die zeitlichen und perspektivischen Besonderheiten herausarbeitete, konzentriert sich die folgende Analyse auf die thematischen Kernelemente, die der Film verhandelt. Im theoretischen Rahmen der Mind-Game-Filme lassen sich drei Kernmotive identifizieren: die Fragmentierung der Identität, die existenzielle Isolation und die mediale Konstruktion des Selbst. Diese drei miteinander verwobenen Themen bilden das Fundament des Films und ermöglichen eine tiefere Interpretation der zugrundeliegenden psychologischen und philosophischen Dimensionen.

Identität und Fragmentierung des Selbst

Die Frage nach der Identität bildet das Kernmotiv in I’m Thinking of Ending Things und manifestiert sich auf mehreren Ebenen. Jakes psychologische Fragmentierung ist nicht nur ein erzählerisches Element, sondern das zentrale Anliegen des Films. Anders als in der bereits analysierten narrativen Struktur, welche diese Fragmentierung formal abbildet, steht hier die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem zersplitterten Selbst im Vordergrund.

Die instabile Identität der Protagonistin – die zwischen den Namen Lucy, Lucia, Louisa und Ames sowie zwischen verschiedenen Berufen (Physikstudentin, Gerontologiestudentin, Malerin, Dichterin) wechselt, spiegelt Jakes Unfähigkeit wider, einen kohärenten Selbstentwurf zu entwickeln. Diese Instabilität geht über die narrative Unzuverlässigkeit hinaus und wird zu einem existenziellen Kommentar über die Unmöglichkeit, ein authentisches Selbst zu entwickeln. Die aufblitzenden Déjà-vus der Freundin geben früh im Film einen Hinweis darauf, dass es sich bei ihr viel mehr um ein mentales Konstrukt als um eine autonome Person handelt. Zu dem Zeitpunkt ist es vor allem eine Skurrilität, die erst nach dem „Aha“-Moment im letzten Akt des Films aufgelöst und vollends verstanden wird.

Eine Fragmentierung der Identität zeigt sich noch deutlicher in der Darstellung von Jakes Eltern, die im Laufe des Abends rapide altern und verjüngen. Ihre Darstellung stellt eine doppelte Funktion dar: Das Altern wird zum Hinweis auf seine instabile Wahrnehmung in Bezug auf sich selbst und grundlegende Beziehungen. Die Eltern verkörpern nicht nur verschiedene zeitliche Versionen, sondern auch verschiedene Aspekte von Jakes fragmentierter Selbstwahrnehmung: von Idealisierung bis hin zu tiefer Enttäuschung.

Als sich Lucy in Jakes Elternhaus in einem Kinderbild von Jake wiedererkennt, ist das nicht nur eine weitere Bestätigung dessen, dass sie eine Projektion ist, sondern zeigt auch die Veräußerung von Jakes Psyche auf Andere. Die Szene führt zu der Erkenntnis, dass Jakes Unfähigkeit, ein Selbstbild zu erzeugen, zu einer Projektion der eigenen Wünsche, Ängste und ungelebten Möglichkeiten auf andere Persönlichkeiten führt.

Der Film entwickelt dabei eine komplexe Phänomenologie der Selbsttäuschung. Jake erlebt sein Leben nicht nur subjektiv verzerrt, sondern konstruiert alternative Versionen von sich und seiner Umgebung. Diese Selbsttäuschung ist keine reine Fehlwahrnehmung, sondern ein aktiver kreativer Akt. Er versucht verzweifelt, der Bedeutungslosigkeit zu entkommen und seinem Leben einen Sinn zu geben. Lucy fungiert dabei als idealisiertes Alter Ego, das all die intellektuellen, künstlerischen und sozialen Fähigkeiten besitzt, die Jake sich selbst gern zuschreiben würde.

Die thematische Auseinandersetzung mit Identität und Selbsttäuschung geht über die Aspekte der unzuverlässigen Erzählung hinaus und berührt grundlegende existenzielle Fragen. Bis zu welchem Punkt ist jede Identität nicht lediglich eine Fiktion, die wir uns selbst erzählen?

Kulturelle Aneignung und mediale Spiegelung

In I’m Thinking of Ending Things sind künstlerische und kulturelle Verweise ein fundamentaler Baustein von Jakes Selbstverständnis und Wahrnehmung der Welt. Anders als die bereits analysierte narrative Struktur, die formale Brüche erzeugt, steht folgend die thematische Dimension der kulturellen Aneignung im Vordergrund. Also die Art und Weise, wie Kunst und mediale Produkte die Selbstwahrnehmung und Identitätsbildung von Jake beeinflussen.

Eine erste kulturelle Referenz findet während der Fahrt zu Jakes Elternhaus statt. Lucy formuliert in Gedanken: „Jake ist schwer zu durchschauen. Er ist wie ein Fenster in seine Vergangenheit. Das Kind ist des Mannes Vater und so weiter.“ Der Gedanke lässt zum einen auf Jakes nostalgischen Blick in seine Kindheit schließen, die Formulierung „Das Kind ist des Mannes Vater“ ist zugleich aber auch kein origineller Gedanke von Lucy, sondern ein Zitat des britischen Dichters William Wordsworth. Der Film thematisiert diese Aneignung durch Jakes Frage: „Bist du eigentlich ein Fan von Wordsworth?“. Es ist ein merkwürdiger Moment, da Lucy die Worte nicht einmal laut ausgesprochen hat. Sie leugnet daraufhin, je von Wordsworth gehört zu haben. Als Jake ihr daraufhin erklärt, dass Wordsworth eine Reihe an Gedichten für eine Frau namens Lucy geschrieben hat, wird ein Hinweis auf die Hintergründe zur Konstruktion gegeben.

Um die Zeit zu verkürzen, bittet Jake Lucy eines ihrer Gedichte zu rezitieren. Sie trägt daraufhin ihre angebliche Eigenkreation Bonedog vor. Ein Gedicht, welches eigentlich von Eva H.D. stammt. Es beginnt mit den Worten „Nach Hause zu kommen, ist schlimm“ und schafft dadurch eine Vorahnung von Jakes düsterem Bild des Zuhauses und den Grund dafür, warum die imaginierte Autofahrt so endlos erscheint. In weiteren Zeilen heißt es: „Du stöhnst dem nächsten identischen Tag entgegen“, „nichts bewegt sich, nur die sich ändernden Gezeiten von Salz in deinem Körper“. Sie verdeutlichen Jakes Frustration des Stillstandes und sein Gefühl, der Zeit ausgeliefert zu sein. Er bringt seine Haltung durch die Aussage: „Es ist fast, als hättest du es über mich geschrieben“ zum Ausdruck.

Filmszene: Lucy findet später im Farmhaus ein Buch mit „ihrem“ Gedicht
Lucy findet später im Farmhaus ein Buch mit „ihrem“ Gedicht

Nach einem weiteren abrupten thematischen Sprung reflektiert Jake seinen Medienkonsum und die Wirkung auf ihn: „Ich glaub ich schau zu viele Filme […] Ich füll mein Hirn mit Lügen, auf dass die Zeit schneller vergeht.“ Ein Einwurf, der seinen Eskapismus in kulturelle und mediale Inhalte zum Ausdruck bringt. Er scheint sich deren Einfluss auf seine verfälschte (Selbst-) Wahrnehmung bewusst zu sein.

Im Verlauf der Fahrt wird die Stimmung immer gedrückter. Jakes Idealbild Lucy versucht dem noch entgegenzuhalten: „Jeder will leben Jake“. Woraufhin er eine Anekdote zu Blattläusen einbringt, die für die Gesellschaft zu „Selbstmordattentäter[n]“ werden. Lucy blickt in die verschneite Landschaft und erblickt das Werbebanner einer Eiscreme-Marke, die später noch relevant wird. Es tritt eine Störung auf, als das abgebildete Schwein zu ihr spricht: „Komm mit mir“. Eine Irritation, die noch nicht aufgelöst wird. Lucy scheint sie zu ignorieren und wirft zu den Blattläusen ein: „Vielleicht sind die ja so programmiert worden“. Eine mögliche Rechtfertigung für Jakes Suizidgedanken, die er aber unterbindet, indem das Auto aus dem Nichts beim Farmhaus ankommt.

Eine ebenso wichtige Begegnung mit Kunst findet später im Keller statt. Ein Ort, von dem Jake Lucy bewusst fernhalten will, als Abwehrmechanismus vor verdrängten Wahrheiten. Bevor sie die dort untergebrachten Kunstwerke sieht, entdeckt sie in der Waschmaschine noch die Uniform des Hausmeisters. Erstmals gibt es für den Zuschauer eine direkte Verknüpfung von ihm zu Jake. Lucy kommen erste Zweifel auf, die sich deutlich verstärken, als sie sich den Gemälden zuwendet. Sie erkennt die Bilder als ihre eigenen, obwohl sie von Jake signiert sind und nicht von ihr stammen können. Ein Vergleich mit den Bildern auf ihrem Handy scheitert, denn in der Galerie findet sich kein einziges Bild – die Konstruktion ihres Selbst löst sich immer weiter auf. Wir sehen außerdem die Originalwerke an der Wand hängen, die Jake lediglich nachgebildet hat. Der Moment fungiert als Mehrfachwirkung der Mind-Game-Irritation. Erst denken wir, Lucy hätte die Gemälde angefertigt, nur um wenig später herauszufinden, dass selbst Jake sich der Werke nur angeeignet hat.

Auf der Rückfahrt zitiert Lucy Wort für Wort eine Kritik von Pauline Kael zu John Cassavetes‘ Film Eine Frau unter Einfluss. Schon der Filmtitel ist eine interessante Parallele zur reinen Imaginationsfläche Lucy, die also unter dem Einfluss von Jake steht. In der Szene wird das noch verdeutlicht, indem sie ihre Handlungen, denen von Kael angleicht. Sowohl ihre Haltung als auch das Rauchen der Zigarette zeigen ihr Idealbild. Es wird jedoch nicht offenbart, dass es sich um fremde Gedanken handelt. Stattdessen schreibt Jake seiner Freundin (und damit sich selbst) die Filmexpertise zu.

Wie schon auf der Hinfahrt setzt Jake erneut zur Rekapitulation seines Medienkonsums an: „Beobachtest du die Welt durch die Mattscheibe, wird alles vorinterpretiert. Das infiziert unser Gehirn und lässt uns letztendlich dazu werden.“ Erstmalig offenbart Jake selbst, dass es sich um ein Zitat aus dem Buch Die Gesellschaft des Spektakels von Guy Debord handelt und nicht um eine Eigenkonstruktion. Es ist ein klarer Moment seines fragmentierten Gedächtnisses, in dem ihm bewusst wird, dass vieles vom Gezeigten keine wirkliche Eigenleistung war, sondern der Versuch, seinem Leben Bedeutung und Tiefe zu verleihen.

Diese kulturzentrische Perspektive findet ihren Höhepunkt in der Musical-Sequenz. Jakes Suizid geht eine Zusammenführung zweier zentraler Aspekte des Films voraus: die Inszenierung des wiederkehrenden Motivs Oklahoma! verknüpft die Fragmentierung seiner Identität mit der kulturellen Aneignung.

Sein Streben nach Anerkennung wird ad absurdum geführt, als ihm der Nobelpreis für sein Leben verliehen wird. Der Moment zeigt seine Spaltung zwischen wissenschaftlichen Ambitionen und seinem philosophisch-kulturellen Selbst, denn die Bühne der Verleihung ist gleichzeitig das Bühnenbild einer Szene aus Oklahoma!. Es bleibt nicht nur bei der Andeutung, Jake stimmt den Song Lonely Room an, der mehrdeutige Parallelen zu seiner Situation aufwirft. „By myself in a lonely room“ beschreibt nicht nur seine gegenwärtige Situation im Schulgebäude, es unterstreicht auch seine innere Leere, Hilflosigkeit und soziale Isolation. Im Musical wird der Titel außerdem von der Figur Jud Fry gesungen, der ein einsamer Außenseiter ist. „And all the things that I wish for turn out like I want them to be“ artikuliert seine dem Film zugrunde liegende Wunschvorstellung eines Lebens, das er nie gehabt hat. Trotz seiner Ausgrenzung versucht er sich über andere zu erheben: „I’m better than that Smart Aleck cowhand who thinks he’s better than me“. Auch sein problematisches Verhältnis zu Frauen, welches in der Tanzszene verstärkt zum Ausdruck kommt, versucht er loszuwerden: „The girl that I want ain’t afraid of my arms“.

Die Verdrängung der Realität scheitert allerdings endgültig mit dem Bewusstwerden: „It was all a pack o’ lies. I’m awake in a lonely room“. Jake gibt sich der Wirklichkeit und dem für ihn unausweichlichen Suizid hin. Das Publikum, vergangene Begegnungen, die ihn verachteten, klatscht bei Standing Ovations Beifall. Die persönliche Tragödie wird zum künstlerischen Triumph.

Die kulturelle Aneignung führt indes zu einer Reflexion über die Konstruktion des Selbst in einer mediatisierten Gesellschaft. Jakes positive Assoziationen stammen nicht aus authentischen Erfahrungen, sondern allein aus der Kunst und Kultur, die er konsumiert. Seine Identität lässt sich als ein Flickenteppich von kulturellen Referenzen, medialen Einflüssen und Meinungen anderer beschreiben. Abseits von Jakes Extrembeispiel eröffnet der Film die Fragestellung danach, wie man in einer von Medien durchdrungenen Welt noch ein authentisches Selbst konstruieren kann und wie viele der Eigenschaften nicht allein durch Drittwirkung erzielt werden. Inwieweit sind unsere Identität, Gedanken und Gefühle wirklich unsere eigenen und nicht (nur) die Produkte kultureller Einflüsse? Die Antwort darauf wäre wohl eine verschwommene Grenze, ganz ähnlich zu den Eigenschaften von Jake und dessen Idealvorstellung Lucy.

Isolation, Depression und Selbstauslöschung

Der Film präsentiert Jakes Selbstmord nicht als reinen Schlusspunkt, sondern als letzten Höhepunkt eines Lebens, das von starker Isolation und verpassten Möglichkeiten geprägt ist. In diesem Abschnitt soll die existenzielle Dimension der Selbstauslöschung in den Fokus gerückt werden.

Die Isolation von Jake ist visuell ein tragendes Motiv. Auf der nahezu endlos wirkenden Autofahrt sehen wir eine trostlose Winterlandschaft, die von Lucy als solche kommentiert wird. Auch das Farmhaus von Jakes Eltern ist isoliert, angrenzende Häuser gibt es nicht. Schulkorridore, die sonst gefüllt sind, bleiben während seiner Hauptarbeitszeit gespenstisch leer. Aus den Schauplätzen werden symbolische Räume seines Innenlebens. Selbst in tagsüber stattfindenden Szenen in der Schule ist Jake präsent und doch unsichtbar. Scheinbar gefangen in den endlosen Gängen dieser Schule.

Obwohl seine Arbeit als Hausmeister wichtig für die Funktionalität der Institution ist, bleibt er unbeachtet und sozial geächtet. Wir sehen Schüler, die über ihn zu lästern scheinen, seine Isolation und Unsicherheit noch weiter fördern. Jake existiert nur noch als eine Selbstverständlichkeit in seiner Arbeitsfunktion, gesellschaftlich entmenschlicht.

Seine Isolation führt zur Depression. Jake hat das Gefühl, der Zeit ausgeliefert zu sein, keinen Einfluss mehr auf den weiteren Verlauf seines Lebens zu haben. Artikuliert wird das abermals durch Lucy, als sie sagt: „Menschen glauben, sich wie Punkte durch die Zeit zu bewegen, aber ich glaube, es ist das Gegenteil. Wir sind unbeweglich und die Zeit geht durch uns hindurch wie ein kalter Wind.“ Sie verdeutlicht sein Gefühl der Stagnation, während die Zeit und seine Umwelt sich weiterbewegen. Jake manifestiert seine Handlungsunfähigkeit. Mehrfach betont er die Vorteile der Jugend, um sich selbst aus der Pflicht zu nehmen, jetzt noch etwas ändern zu müssen. Aus seiner Sicht liegen die Möglichkeiten, etwas an seinem Schicksal zu ändern, allein in der Vergangenheit: „Du hast dich so oft falsch entschieden. Die große Lüge“. Er ist gefangen im Jetzt und macht sich auch keine Vorstellung von einer potenziellen Zukunft. Seine Reflexion findet allein rückblickend statt.

Im Verlauf des Films wird das Motiv der Depression immer zentraler. Während das Idealbild von Jakes Freundin Lucy zu Beginn noch aufrechterhalten wird, tauchen zunehmend Visionen seines älteren Ichs auf. Die narrativen Brüche lassen sich später als Einbrüche seiner depressiven Wirklichkeit verstehen. Immer häufiger bricht die Depression mit der Fantasievorstellung, bis zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Der Film reduziert die Depression somit nicht alleinig auf die Krankheitssymptome, sondern macht daraus eine existenzielle Kondition als Entfremdung von sich und der Außenwelt.

Die surreale Tanzszene, kurz vor dem Finale, trägt den inneren Konflikt nach außen. Wir sehen eine junge Version von Jake, ebenfalls idealisiert, ganz so, als hätte man die von Jesse Plemons verkörperte Figur durch einen Darsteller ersetzt, der noch mehr in das medienvermittelte Idealbild passt. Der junge, gut gekleidete Jake, kämpft gegen sein altes Selbst in der Hausmeisteruniform. So manifestiert sich der Kampf zwischen dem unterfüllten Potenzial und der bitteren Realität. Die choreografierte Gewalt ist eine Metapher für seinen psychologischen Konflikt, den Selbsthass, der aus der Diskrepanz seines Selbstbilds und der Realität entsteht. Es verbildlicht außerdem sein Streben nach der Jugendlichkeit, mit der er alltäglich in der Schule konfrontiert ist. Er scheint sich zu dem Zeitpunkt aber mit seinem Schicksal abgefunden zu haben. Er gibt sich seiner Verletzlichkeit und Sterblichkeit hin und versucht, das Idealbild loszuwerden.Der sich androhende Suizid von Jake ist demnach keine impulsive Reaktion, sondern die für ihn logische Konsequenz eines Lebens, das in Isolation und von ungenutzten Möglichkeiten durchzogen gelebt wurde. Für Jake ist der Selbstmord nicht aus einer Verzweiflung entwachsen, sondern vielmehr ein Versuch der Selbstbestimmung. In seinem Elternhaus haben wir die schwierige letzte Lebensphase seiner Eltern durch Demenz und Pflegebedürftigkeit erlebt. Nach einem unerfüllten Leben scheint er sich diesem Schicksal entziehen zu wollen.

Fazit

Die Analyse der zentralen Motive in I’m Thinking of Ending Things – Identität und Fragmentierung des Selbst, kulturelle Aneignung, mediale Spiegelung sowie Isolation, Depression und Selbstauslöschung – offenbart die Komplexität des Films über seine narrative Struktur hinaus. Die Motive fügen sich derart zusammen, dass sich grundlegende Fragen zur menschlichen Existenz in der aktuellen Gesellschaft ergeben.

Der Film nutzt die ästhetischen Stilmittel des Mind-Game-Films nicht nur zur Verwirrung des Zuschauers, sondern um eine tiefgehende Reflexion über die Möglichkeit der Selbsterkenntnis in einer mediatisierten und entfremdeten Welt zu ermöglichen. Durch die Verschmelzung von Realität und Fiktion, Authentizität und Aneignung sowie Selbst und Außenwelt entwirft I’m Thinking of Ending Things eine Phänomenologie des modernen Bewusstseins, das stärker denn je von Fragmentierung, medialen Einflüssen und einer sozialen Isolation geprägt ist.

Während man als Zuschauer zunächst vor allem versucht ist, die narrativen Brüche zu einer konsistenten Handlung zusammenzusetzen, eröffnet sich einem danach eine clevere Darstellung von menschlichen Zuständen. Kaufman verweigert sich in seiner Inszenierung der klassischen Hollywood-Logik des Happy Ends und verbleibt mit einer bitteren, aber realistischen Darstellung eines Innenlebens.

Lucy (Jessie Buckley) mit einem Glas vor einer Motivtapete sitzend, Blick in die Kamera

Die (audio)visuellen Stilmittel

Die vorherigen Kapitel konnten die komplexe narrative Struktur von I’m Thinking of Ending Things beleuchten. Im Folgenden wird nun auf die filmästhetischen Stilmittel eingegangen, die Kaufman gezielt einsetzt, um die psychologische Offenlegung von Jake (audio)visuell zu inszenieren. Im Fokus stehen die klaustrophobische Bildsprache sowie das Sounddesign.

Klaustrophobische Bildsprache

Charlie Kaufman hat durch seine bisherige Filmografie viel Erfahrung damit, die Innenwelt seiner Charaktere nach außen zu tragen. Bei I’m Thinking of Ending Things beginnt die visuelle Gestaltung schon beim Bildformat. Anstelle des für Spielfilme üblichen Cinemascope-21:9-Seitenverhältnisses ist dieser Film im 4:3-Format gedreht. Der Zuschauer wird also direkt mit einer einengenden Bildsprache konfrontiert, die neben den Charakteren wenig Platz für die Umwelt lässt.

Verstärkt wird dieses Gefühl durch die Verortung. Die Handlungsorte – eine verschneite Landstraße, ein abgelegenes Farmhaus, eine Eisdiele und die Schule im Nichts – geben keinen Hinweis auf geografische Punkte. Vielmehr symbolisieren sie die Erinnerungsfetzen von Jake, die lose miteinander verbunden sind. Der nächtliche Schneesturm als Symbolik für dieses bruchstückhafte und schwierige Erinnern an vergangene Zeiten ohne irgendwelche Fixpunkte. Handlungsorte und Figuren tauchen plötzlich aus dem Nichts auf, sobald unangenehme Themen oder Erinnerungen aufkommen. Die beiden Protagonisten sind nicht nur durch das Bildformat und die Orte eingeengt. Das fahrende Auto und die gerade Straße ohne Abzweigungen deuten auf die Unausweichlichkeit der bevorstehenden Ereignisse hin, auch wenn diese zu dem Zeitpunkt noch nicht bekannt sind. Eine beklemmende Stimmung ist zwar spürbar, bislang geht der Zuschauer aber noch davon aus, dass es sich um einen Trennungsgedanken, „Ich denke darüber nach, Schluss zu machen“, handelt und nicht um die Beendigung des Lebens.

Erweitert wird die Bildsprache durch die Kunstwerke, die im Farmhaus gezeigt und in großer Anzahl platziert sind. Ein entscheidender Moment der Kunstrezeption findet während des Abendessens statt, als Lucy Jakes Vater auf dem Handy ihre Gemälde zeigt. Es handelt sich um Landschaftszeichnungen, die keine Personen zeigen, trotzdem aber Stimmungen. Daraufhin stellt er ihr die Frage: „Wie kann man etwas fühlen, wenn keine Person da ist, die sich … traurig oder freudig fühlt“. Dadurch wird ein zentraler Punkt des Films bewusst artikuliert. Kann eine Emotion existieren, wenn man die Erfahrung nicht selbst erlebt hat? Die Frage repräsentiert Jakes Ausbleiben an eigenen Erlebnissen, die er nur aus Kunst und Medien zieht. Deshalb argumentiert Lucy auch, dass die Emotion rein durch das Betrachten erzeugt wird. Eine Rechtfertigung von Jakes Unterbewusstsein für die nicht genutzten Chancen.

Sounddesign und Filmmusik

Das Sounddesign und die Filmmusik von I’m Thinking of Ending Things werden sehr pointiert eingesetzt. Der Komponist Jay Wadley sollte für Kaufman einen Klang für das Unterbewusstsein von Jake erschaffen. Dafür setzt Wadley auf große Leerstellen, durch welche der Zuschauer wie die Figuren der Unbehaglichkeit ausgesetzt ist (Patches, 2020). Es gibt keine Untermalung, die davon befreien könnte. Erst im Finale des Films werden die musikalischen Motive deutlich komplexer. Wir hören sowohl Ballettmusik als auch Werbe-Jingles. Der Kontrast wurde dabei deswegen gewählt, um auch audiovisuell den mentalen Zerfall des Protagonisten darzustellen. Alle vergangenen Erinnerungen münden in diesem Augenblick und verschmelzen ineinander.

Ein wiederkehrendes Element des Films ist ein Eincremewerbespot mit einem eingängigen Jingle, der eigens für den Film entworfen und komponiert wurde. Das erst einmal trivial wirkende Element wird später zu einem Ankerpunkt des Finales, wo es in einer verfremdeten Form wieder auftaucht. Wadley ließ die Musik dafür durch ein Tonbandgerät laufen und hat sie unter anderem pausiert und wieder zurückgespielt, um damit eine Verfremdung zu erzeugen, welche der verzerrten Wahrnehmungswelt des Protagonisten entspricht.

In der Narration hat die Werbung zwei Funktionen. Zum einen verdeutlicht sie Jakes nostalgisches Streben nach der Vergangenheit, die sich hier durch ein Element aus seiner Kindheit offenbart. Zum anderen fällt die Werbung aus dem zeitlichen Rahmen der gegenwärtigen Handlung. Eine genaue zeitliche Verortung gibt es zwar nicht, die Verwendung von Smartphones lässt aber auf eine recht aktuelle Zeit schließen. Die Werbung hingegen ist in Schwarz-Weiß gehalten, mit wenigen Bildern pro Sekunde und scheinbar händisch gezeichnet. Jake, der wohl um die 30 Jahre alt sein dürfte, sollte diese Werbung also gar nicht aus seiner Kindheit kennen. Es wird damit also abermals verdeutlicht, dass Jake als Erzähler der Geschichte wohl deutlich älter sein müsste.

Lucy (Jessie Buckley) mit einem Glas vor einer Motivtapete sitzend, Blick in die Kamera

I’m Thinking of Ending Things im Kontext des Mind-Game-Kinos

In den vorherigen Teilen konnte gezeigt werden, dass sich I’m Thinking of Ending Things idealtypisch in die (jüngere) Tradition der Mind-Game-Filme durch narrative und visuelle Techniken einordnen lässt. Im anschließenden Kapitel soll der Film im breiteren Kontext des Mind-Game-Kinos positioniert werden, wobei Vergleiche zu Genre-Klassikern gezogen und die Innovationen von Kaufmans Adaption herausgearbeitet werden.

Vergleichende Betrachtung mit Mind-Game-Filmen

Während frühere Mind-Game-Filme wie Memento (2000) oder The Sixth Sense (1999) trotz ihrer komplexen Erzählstruktur einen kohärenten Rahmen zur Interpretation bieten, verhindert Charlie Kaufmans Film eine eindeutige Auflösung seiner narrativen Rätsel. Diese Verhinderung der eindeutigen Auslegung stellt I’m Thinking of Ending Things eher in die Nähe von David Lynchs Werken wie beispielsweise Mulholland Drive (2001). Auch wenn sie sich thematisch unterscheiden (existenzielle Themen versus Dekonstruktion von Hollywood), so gibt es für beide Werke nur Ansätze der Interpretation und viele offen gelassene Fragen.

Existenzielle Themen und das Innenleben der Charaktere sind in mehreren Filmen von Kaufman ein zentrales Thema. So auch in Spike Jonzes Komödie Being John Malkovich, für welche Kaufman das Drehbuch verfasste. Anders als in der Komödie ist der Zugang zum Bewusstsein nun nicht mehr an ein physisches Portal geknüpft, vielmehr könnte man sagen, dass das Bewusstsein selbst zum Portal wird. Erinnerungen, Wünsche, Fantasien und Identitäten bewegen sich frei zwischen mehreren Figuren. I’m Thinking of Ending Things kann insofern als eine Weiterentwicklung der vorherigen Mind-Game-Elemente von Kaufman gesehen werden. Eine detaillierte Anleitung zur Dechiffrierung seiner Idee liefert er bei seinem eigenen Regiewerk nicht mehr mit. In der Gestaltung unterscheidet sich I’m Thinking of Ending Things stärker von den Klassikern des Genres. Während Filme wie Fight Club (1999) oder The Matrix (1999) visuelle Brüche und dynamische Schnitte einsetzen, um Verschiebungen der Realität darzustellen, wählt Kaufman subtilere filmische Techniken. Er verändert beispielsweise ein wenig das Kostüm, wandelt die Figurennamen oder deren Profession ab. Darüber hinaus baut er visuelle Fehler beziehungsweise Glitches ein. Beispielsweise durch den (inzwischen verstorbenen) Hund von Jake, der sich deutlich länger als gewöhnlich schüttelt, oder auch Schnee im Gebäude oder nur partiell in der Außenwelt.

Vergleich zur literarischen Vorlage

Kaufmans Film ist eine Adaption des gleichnamigen Romans von Iain Reid. Der Regisseur hat gemeinsam mit dem Autor an der Umsetzung gearbeitet und einige Unterschiede geschaffen. Nennenswert ist dabei die Rolle der Frau. Während bisherige Mind-Game-Filme die Handlungsmacht von projizierten Figuren meist einschränkten, gibt Kaufman seiner Protagonistin eine große Eigenständigkeit. Anders als im Buch wollte Kaufman sie nicht als reine Einbildung für den Plottwist inszenieren. Lucy arbeitet aktiv dagegen an, lediglich die Einbildung eines Mannes zu sein. Jake kann also selbst in seiner Fantasie nicht seinen Willen erhalten. 

Eine signifikante Erweiterung von Reids Roman ist die Implementierung des Musicals Oklahoma! als strukturweisendes Element. Im Roman findet das Stück keine Erwähnung. Zu Beginn wird das Musical subtil eingeführt, beispielsweise durch das Abspielen eines daraus stammenden Songs. Außerdem wird eine Highschool-Aufführung erwähnt und durch die Perspektive des Hausmeisters gezeigt. Im späteren Verlauf werden die Bezüge zunehmend expliziter und münden schließlich in Jakes Aufführung von Lonely Room im letzten Akt. Die Integration des Musicals schafft eine Parallelhandlung zwischen Jake und der Musicalfigur Jud Fry. Beide sind Außenseiter, die am Ende des Stücks ihr Leben verlieren.

Kaufman erweitert die Handlung außerdem um die zeitliche Diskontinuität und Unzuverlässigkeit der Erinnerung. Iain Reid umschreibt lediglich ein Unwohlsein von Lucy. Eine durchaus denkwürdige Szene hat es dabei überraschenderweise nicht in die filmische Adaption geschafft. Im Roman geht Lucy nach dem Abendessen ins Badezimmer und entdeckt dort eine Fliege, die sich nicht mehr regt. Lucy empfindet Mitleid, da sie aus dem fensterlosen Raum nicht mehr ins Freie kommen kann. Sie zerquetscht die Fliege im Becken und kommentiert, dass sie so etwas normalerweise nicht tun würde und es nur gut mit ihr meint: „So ist es schnell vorbei – besser als die Alternative, das arme Ding in einem langsamen Strudel in den Tod zu spülen. Oder es einfach im Becken zurückzulassen“ (Reid, 2017, S. 99). Reid bringt damit akkurat den Zustand von Jakes Psyche auf den Punkt. Sie kommt einer Situation gleich, die es in den Film geschafft hat: Als Jake Lucy durch die Farm führt, erzählt er, dass seine Eltern früher Schweine hatten. Diese wurden jedoch von innen heraus von Maden aufgefressen und es brauchte Tage, um die Problematik zu erkennen, da sie von Weitem aussahen wie immer.

Die surreale Repräsentation der Eltern ist ebenso eine Neuschöpfung des Films. Sie existieren in Jakes Gedächtnis nicht als kohärente Personen, sondern als temporale Momentaufnahmen verschiedener Lebensphasen. Sie sind für ihn in erster Linie eine Projektionsfläche, die sein Scheitern erklärt. Seine Eltern wirken stets nett, doch bleibt Jake außergewöhnlich distanziert. Als die zeitlichen Anomalien auftauchen, sind es außerdem vor allem negativ geprägte Momente wie der gesundheitliche Verfall. Von Lucy erhofft er sich auf der Rückfahrt eine Bestätigung seiner Argumentation, die sie ihm allerdings nicht gibt.

Lucy (Jessie Buckley) mit einem Glas vor einer Motivtapete sitzend, Blick in die Kamera

Reflexion und Fazit

Die Analyse hat sich mit dem komplexen Phänomen des Mind-Game-Films am Beispiel von Charlie Kaufmans Werk I’m Thinking of Ending Things beschäftigt. Es konnte aufgezeigt werden, wie das filmische Konzept in einer zeitgenössischen Ausprägung ausgestaltet sein kann. Im Zentrum standen dabei die Analyse der narrativen Strategien, die zentralen Motive und die ästhetische Gestaltung, die dazu beitrugen, den Film in der Gattung des Mind-Game-Films zu verorten.

Zusammenfassung der Erkenntnisse

Es konnte gezeigt werden, dass I’m Thinking of Ending Things die von Elsaesser beschriebenen Charakteristika eines Mind-Game-Films konsequent umsetzt und diese in Teilen sogar weiterentwickelt. Der Film verweigert sich der Konvention einer linearen Erzählung und erschafft stattdessen eine traumähnliche Logik, in welcher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verwoben sind. Die Unzuverlässigkeit der Narration manifestiert sich in der Instabilität und Projektion der Protagonistin Lucy, deren Identität, Name und Beruf sich im Laufe des Films mehrfach verändert.

Die Analyse des Films konnte herausarbeiten, dass die fragmentierte Chronologie und die Fluidität der Identität mehr als nur filmische Techniken sind, um die Handlung komplizierter zu gestalten. Stattdessen bilden sie eine visuelle Manifestation der psychologischen Fragmentierung von Jakes Identität ab, die als zentrales Motiv den Film narrativ strukturiert.

Auf einer weiteren Ebene konnte die zentrale Funktion der medialen und kulturellen Aneignung identifiziert werden. Jake konstruiert seine Identität vorrangig durch die Übernahme fremder kultureller und medialer Inhalte wie beispielsweise durch Filmkritiken, Gedichte oder das Musical Oklahoma!.Der Film bringt dadurch nicht nur das Ausbleiben von Jakes Erfahrungen zum Ausdruck, es wird auch kritisch reflektiert, wie die Grenzen zwischen authentischer Erfahrung und medialer Vermittlung in der modernen Welt verschwimmen. Die (audio)visuelle Gestaltung des Films zeigte sich außerdem als Verstärker der klaustrophobischen Erzählung, beispielsweise durch das schmalere 4:3-Bildformat, isolierte Schauplätze und bewusst gesetzte Leerstellen im Sounddesign.


  • Deleuze, G. (1999). Das Zeit-Bild: Kino 2. Suhrkamp.
  • Elsaesser, T. (2009). The Mind-Game Film. In W. Buckland (Hrsg.), Puzzle Films: Complex Storytelling in Contemporary Cinema (S. 13–41). John Wiley & Sons.
  • Kirchhoff, C. (2009). Das psychoanalytische Konzept der “Nachträglichkeit” [Zugl. Teildr. von: Bremen, Univ., Diss., 2007, Psychosozial-Verl, Gießen]. Deutsche Nationalbibliothek.
  • Patches, M. (2020). I’m Thinking of Ending Things found meaning through music. https://www.polygon.com/21434197/im-thinking-of-ending-things-ending-meaning-
    explained-music-composer-jay-wadley
  • Schade, J. (2024). Unzeit [Dissertation, Neofelis; Neofelis Verlag, Berlin]. Deutsche Nationalbibliothek.
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