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Eunice aus dem Fenster eines weißen Autos blickend

I’m Still Here Kritik: Familienidylle trifft auf Militärdiktatur

In „I’m Still Here“ wird eine Großfamilie durch die Militärregierung aus ihrer idealtypischen Welt gerissen. Die Geschichte einer Mutter, die sich in der schwierigsten Zeit neuerfinden muss.

Müsste man die von Peter Fox besungene Idylle des Hauses am See noch auf die Spitze treiben, dann wäre es vermutlich die Verlagerung ans Meer. Die Familie Paiva lebt diesen unwirklichen Traum. Von ihrem Familienhaus sind es kaum ein paar Schritte, bevor man das Meer betritt. Trotzdem lässt sich die schwerwiegende Realität der herrschenden Militärdiktatur Brasiliens im Jahre 1970 nicht gänzlich ignorieren. Militärfahrzeuge durchbrechen immer wieder das heilvolle Bild.

Als die Kinder eines Nachts vom schwerbewaffneten Militär kontrolliert werden, deutet sich ein Wandel an. Zwar kommen sie durch die politische Vergangenheit des Vaters aus der Situation heraus, nur wenige Tage später stehen jedoch bewaffnete Männer vor der Haustür. Es ginge nur um ein paar Fragen an Vater Rubens (Selton Mello). Dass mehr dahintersteckt, lässt die bedrückende Situation schon erahnen.

Für die Familienmutter Eunice (Fernanda Torres) bricht die wohl schwierigste Zeit ihres Lebens an. Aus der kurzen Befragung werden erst Tage, dann Wochen ohne auch nur eine Information über den Verbleib ihres Mannes. Es entbrennt ein Kampf, um in der verwogenen Situation an Details zu kommen, während die dauerhafte Beobachtung vor dem Haus an den Nerven zehrt und die fünf Kinder irgendwie ihren Alltag bestreiten müssen.

Regisseur Walter Salles lässt sich zu Beginn viel Zeit, um eine Fallhöhe zu schaffen. In sommerurlaubsähnlichen Bildern begleiten wir das so makellose und von banalen Problemen begleitete Familienleben. Immer wieder lässt man mysteriöse Telefonanrufe in die Handlung einfließen, die einen Ausblick auf das uns noch Ungewisse geben. Die Auflösung, so weit sie erfolgt, braucht aber Geduld. Wir folgen vor allem der Familienmutter und sind dabei ähnlich ahnungslos wie sie.

Die Ungewissheit wird mit einem zweiten Handlungshöhepunkt gebrochen. Eunice und ihre 15-jährige Tochter Eliana (Luiza Kosovski) werden von den gleichen Männern zum Verhör mitgenommen. Jetzt erleben sie und auch wir als Zuschauer am eigenen Leibe, was vorher nur gemutmaßt wurde. In schummrigem Licht wird verhört, danach geht es in eine winzige Zelle. Politische Akteure aus dem persönlichen Umfeld sollen benannt werden. Das Gefühl von Raum und Zeit geht verloren und es ist unklar, ob man den von schrecklichen Geräuschen gesäumten Knast jemals lebend verlassen wird.

Egal wie trostlos es wird, Eunice schafft es trotzdem, daraus Kraft für einen mühsamen Kampf zu schöpfen. Es wird noch lange dauern, ehe die Familie Gewissheit und überhaupt eine Anerkennung der schrecklichen Ereignisse bekommt. Der Wandel dieser ursprünglich so sorgenfreien Frau zu einer eisernen Kämpferin wird brillant von Fernanda Torres verkörpert.

„I’m Still Here“ (Originaltitel: Ainda Estou Aqui) gibt einen geschichtlichen Einblick, in eine Welt, die uns sonst verschlossen verbliebe. Durch den familiären Aufbau der Geschichte sind wir plötzlich Teil dieser Historie. Es ist ein bewegendes Drama geworden, welches trotz der erschütternden Momente auch durchaus Mut macht. Einzig das Ende des Films hätte kürzer ausfallen müssen. Hier hat sich Walter Salles für mehrere Zeitsprünge entschieden, die in ihrem Umfang nur bedingt zum Gesamteindruck beitragen.

„I’m Still Here” wurde im Rahmen der 81. Filmfestspiele von Venedig gesichtet. In Deutschland startet der Film ab dem 13. März 2025 im Kino.

Nils Zehnder
80/100
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